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Russland 1907: „Bierbrauerei mit deutschen Wurzeln“

Die meisten europäischen Auswanderer suchten im 19. Jahrhundert ihr Glück in der Neuen Welt und machten im Idealfall eine Karriere „Vom Tellerwäscher zum Millionär“. Doch auch das russische Zarenreich war das Ziel so manchen deutschen Auswanderers, wie z.B. 1892 des Kapitänssohns Heinrich Bockelmann, den es nach Moskau zog, wo er es vom Volontär zum Mitinhaber einer Bank brachte, der aber vor allem durch seinen berühmten Enkel, den 1934 geborenen Udo Jürgens, nicht in Vergessenheit geriet. Einen anderen Deutschen, den 1832 geborenen Wilhelm Sanzenbacher (1832-1894), hatte es hingegen 1857 in den Süden des Zarenreiches verschlagen, nämlich in die Hafenstadt Odessa, die heute bekanntlich zur Ukraine gehört. Zunächst konzentrierte sich Sanzenbacher auf Herstellung und Vertrieb von Talgkerzen und exklusiven Seifensorten, die auch im Ausland vertrieben wurden. 1890 verlegte er sich aber primär auf das Brauwesen und gründete die „Brauerei Sanzenbacher“, die mit der damals modernsten Technik betrieben wurde. Ein Jahr nach seinem Tod wandelten sein Sohn, seine Tochter und sein Schwiegersohn die Brauerei 1895 in die Aktiengesellschaft „ТОВАРИЩЕСТВО ОДЕССКАГО ПИВОВАРЕННАГО ЗАВОДА“ („Genossenschaftliche Odessaer Bierbrauerei-Fabrik“; frz.: „Societé Anonyme de la Brasserie d‘ Odessa“) mit einem Stammkapital von zunächst 400.000, später 600.000 Rubel um.- Ein Umschlag aus der Firmenkorrespondenz mit dem in russischer Sprache aufgeführten obenstehenden Firmennamen aus dem Jahre 1907 soll hier Gegenstand unserer Betrachtungen sein:
30 1907 Russland               
Das bläulichgraue Couvert aus Faserpapier ist mit 6 farbfrischen russischen Briefmarken der damaligen Freimarkenserien in 4 verschiedenen Farben frankiert, die alle das russische Staatswappen mit dem zaristischen Doppeladler unter der Zarenkrone zeigen. Es handelt sich um die 1 Kopeke dunkelgelblichorange, 3 Exemplare der 2 K dunkelsmaragdgrün, die 3 K lebhaftrosarot sowie die 10 K blau, letztere mit dem Staatswappen im offenen Oval mit Zierrahmen und Viertelkreisen, die zusammen das Auslandsporto von 20 Kopeken bilden. Alle Marken sind einzeln, teils überlappend mit dem Doppelkreisortsstempel von Odessa (ОДЕССА) vom 23.6.[19]07 entwertet, wobei es sich hier um eine Datumsangabe nach dem bis 1918 in Russland geltenden julianischen Kalender handelt, die dem 6.7.1907 gregorianischer Zeitrechnung entspricht. Der Einschreibebrief (Einschreibezettel „ODESSA recommandée“) ist an das Mitglied des „Sanzenbacher-Clans“ „Alphonse Sanzenbacher, Basel , Grellingerstrasse 32“ gerichtet. Diese Straße ist noch heute im Quartier St. Alban gelegen. Für den russischen Postdienst wurden Name, Stadt und Land noch zusätzlich in kyrillischer Schrift vermerkt: „Г[ОСПОДИ]НУ (= Herrn ) A.И. САНЦЕНБАХЕРУ, БАСЕЛЪ, ШВЕЙЦАРИЯ“ (= Schwejzarija). Auf der Rückseite des Umschlags ist der Ankunftsstempel Basels vom 9.7.1907 abgeschlagen, so dass unser Brief einer russischen „Bierbrauerei mit deutschen Wurzeln“ dank des damaligen sehr guten Eisenbahnnetzes für die Strecke von Odessa nach Basel nur 3 Tage Beförderungsdauer benötigte.