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Frankreich 1914: „Kommerz“ im Krieg?

Nachdem als Folge der sog. Julikrise und der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien das mit der Donaumonarchie verbündete Deutsche Reich am 31.7.1914 den „Zustand drohender Kriegsgefahr“ verkündet hatte, folgten noch am gleichen Tag auf nur 12 bzw. 18 Stunden befristete deutsche Ultimaten an Russland und Frankreich. Die französische Regierung, mit Russland und England verbündet, wurde damit aufgefordert, für den Fall eines deutsch-russischen Kriegs die Neutralität zu erklären und als Faustpfand die Festungen Verdun und Belfort zu übergeben, für Frankreich inakzeptable Forderungen. Das Deutsche Reich erklärte am 1.8.1914 Russland und am 3.8. Frankreich den Krieg. Zu diesem Zeitpunkt drangen die deutschen Truppen bereits in Luxemburg und Belgien ein, um im Rahmen des sog. Schlieffen-Plans von 1905 mit einem starken Nordflügel das französische Festungssystem zu umgehen, Paris zu umfassen und dem französischen Heer in den Rücken zu fallen. Fast hätte dieser rasche Vorstoß zum Erfolg geführt, doch konnte Frankreich in der Marneschlacht vom 6.-10.9.1914 den Angriff der deutschen Armeen stoppen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits große Teile Nordostfrankreichs in deutscher Hand, darunter auch das im Département Nord an der Schelde unweit der belgischen Grenze gelegene Valenciennes, eine Stadt mit heute rund 43.000 Einwohnern. In diese Zeit fällt der Postlauf des hier abgebildeten Briefs, abgestempelt am 24.9.1914:

 26 1914 Frankreich                      

Das tadellos erhaltene Couvert ist mit einer knallroten Briefmarke mit weißen Inschriften frankiert, die sich deutlich von den damaligen französischen Dauermarken mit dem Motiv der Säerin (Type Semeuse) unterscheidet. Das ist kein Wunder, denn es handelt sich dabei um eine Ausgabe der Handelskammer von Valenciennes, die am 8.9.1914 während der ersten Zeit der deutschen Besatzung mit Genehmigung der deutschen Militärverwaltung verausgabt worden war, und daher im Michel-Katalog sowohl als Frankreichs Nr. 127, aber auch bei den ersten Germania-Überdruckmarken beim Etappengebiet West gelistet ist. Die mit einfachen Druckmitteln vor Ort in einer Auflage von lediglich 3000 Stück hergestellte und generell schlecht gezähnte Marke zu 10 Centimes diente als Provisorium („Service Postal Intérimaire“) der „Chambre de Commerce de Valenciennes“, nachdem die französischen Briefmarken der lokalen Postbehörde aufgebraucht waren, vornehmlich im Dienstgebrauch, denn Absender des Briefs war das Rathaus bzw. das Büro des Bürgermeisters („Hôtel de Ville de Valenciennes, Cabinet du Maire“), wie der Vordruck links oben mit dem Wappen der Stadt (ein Löwe im bekrönten Schild, der von 2 Schwänen gehalten wird) zeigt. Die Entwertung am 24.9.1914 erfolgte mit dem mattvioletten querovalen Stempel der Handelskammer. Briefempfängerin war „Madame Porteneuve-Lerroud“ in dem nur 7 km südlich von Valenciennes gelegenen Famars, das damals ca. 1000 Einwohner zählte (heute rund 2500), 1793 Schauplatz einer Schlacht im 1. Koalitionskrieg. Zwar fehlt ein Ankunftsstempel, doch ist davon auszugehen, dass der Brief noch am Absendetag zugestellt wurde.- „Kommerz“-Denken dürfte in Anbetracht der Kriegssituation und eines Portos von lediglich 10 C bei der „Chambre de Commerce“ freilich nicht im Vordergrund gestanden haben.